Stilleben. Die Xenien.
 

Die Dinge, denen das Stilleben Aufmerksamkeit zollt, sind Teil einer langen kulturellen Zeitspanne, die bis in die Vorantike zurückreicht.

Die Objekte auf den Tischen (Krüge, Vasen etc.) gehören einer Reihe von Artefakten an, die keinen grundsätzlichen Bruch mit den entsprechenden Gegenständen der "Wandmalereien" aus griechischen Villen oder Pompeji aufweist. Die dem Betrachter vertrauten Schalen, Kelche sind sämtlich direkte Nachfahren von Reihen, die bereits in den antiken Villen gezeichnet wurden.

Die Xenien

Aus den Villen, die unter der Lava des Vesuvs begraben liegen, wissen wir, dass die Römer eine Bildkategorie hatten, die große Ähnlichkeit zu jener Gattung aufwies, die später "Stilleben" genannt wurde: die Xenien.

Die uns erhaltenen Werke entsprechen den meisten später entstandenen Definitionen dieser Gattung der Malerei: Sie sind "stillebende Sache", nature reposée, ruhende Natur. Dinge wie Obst, Wasserkrüge, Kelche, Teller, Tiere, das vertraute Repertoire der späteren Gattung. Die Xenien präsentieren sich uns mehr oder weniger als Ruine, besitzen wir doch nur einen winzigen Bruchteil der Stilleben der Antike, bloße Fragmente dessen, was einst war.

Die uns erhaltenen Xenien wären ein reines Rätsel, könnten wir nicht wenigstens einige Aspekte dessen in Erfahrung bringen, was sie ihren römischen/griechischen Betrachtern bedeuteten, warum sie Wertschätzung genossen und was ihre symbolischen Implikationen und ihr semantischer Inhalt waren.

Zur gesellschaftlichen Funktion der Xenien

Zu der Zeit nämlich, als die Griechen noch verfeinerten Lebensgewohnheiten huldigten und mehr Glücksgüter besaßen, boten sie den zugereisten Gästen Wohn- und Schlafräume nebst Kammer mit Speisevorrat an und luden dieselben zunächst zur Tafel ein. Am kommenden Tag sandten sie demselben Gemüse, Eier, Obst zur Mahlzubereitung. So wurden diese Gegenstände, die man dem "Fremden" darzureichen pflegte (das Stilleben), im Bilde von Malern nachgeahmt und diese mit "Gastgeschenk, Xenien" betitelt.

Man ging von der Annahme aus, daß der in einer fremden Stadt eintreffende Gast zuviel zu tun habe, als sich um Einkäufe zu kümmern, weshalb ihm Proviant zu Verfügung gestellt wurde, mit dem er sich sein Mahl bereiten konnte. Die dargestellten Früchte etc. sind also Lebensmittel, die sich die Gäste selbst anrichten sollen und sind Teil jener Zeremonie, mit der ein Fremder (Xenos) in den Haushalt (Oikos) aufgenommen wurde.

Diese ganz bestimmte Ausprägung der Gastfreundschaft hält sich an präzise Grenzen, die gesellschaftlichen Abstand markieren: Der Fremde wird begrüßt und mittels eines Nahrungsgeschenkes in den Haushalt aufgenommen - bereiten jedoch ihre Mahle gesondert in eigenem Raum vor.

Sie sind roh, ungekocht und gestatten dem Fremden die Freiheit, seine Lebensmittel selbst zuzubereiten, dies zeugt von Respekt gegenüber den Bedürfnissen des Fremden auf Eigenständigkeit und Unabhängigkeit im Oikos.

Das griechische Wort Xenos ist hier von Bedeutung, es ist nämlich ein "umkehrbarer" Begriff, der zugleich den Gastgeber und den Gast bezeichnen kann.

Seine Umkehrbarkeit drückt genau jenen auf Gleichheit ausgerichteten Prozess aus, der optimale Gastfreundschaft auszeichnet, bei der die Abhängigkeitsbeziehung zwischen Gastgeber und Gast überwunden wird und menschlicher Gleichheit weicht:

"Im Haus des Gastgebers sollen die Gäste sich wie zu Hause fühlen".

Heute mag der Gast in einer abhängigen Rolle sein, doch ist die Verbindung eine beiderseitige, denn zu einem zukünftigen Zeitpunkt mag der Gastgeber sich selbst als Gast im Haushalt des Fremden einfinden und in Anerkennung dieser Gegenseitigkeit werden die komplexen gesellschaftlichen Distanzen zwischen den beiden Seiten durch das "Symbolgeschenk der Nahrungsmittel aufgehoben". Es sind einfache rohe Lebensmittel, diese versetzen Gastgeber und Gast wiederum in eine Abhängigkeit von der "Freigiebigkeit" der Natur, nicht des "Haushaltes".

Im Zuge einer eleganten Ablösung wird die Großzügigkeit des Gastgebers, die Quelle der zu vergebenden oder zu beschönigenden Ungleichheit ist, in die Großzügigkeit der Natur übersetzt, die ihre Gaben in Hülle und Fülle darreicht.

Die Beziehung Gast - Gastgeber wird hiermit durch die Beziehung Mensch - Natur ersetzt.

Die Xenien der Antike haben genau wie alle späteren Formen der Stillebenmalerei ein auffälliges Definitionsmerkmal gemein:

"Den Ausschluß der menschlichen Gestalt".

aus: Norman Bryson: Stilleben, das Übersehene in der Malerei, München 2003.

Zurück zu den Xenien