Kunst: heute
 

Die westliche Kunst, die Jahrtausende hindurch von Vorurteilen über Ähnlichkeit oder Darstellung getragen wurde und sich während eines halben Jahrhunderts von Fiktionen bezüglich der Abstraktion treiben ließ, hat sich heute von den letzten kanonischen ideologischen Kriterien befreit und steht vor dem Nichts dieser Freiheit. Wie auch am Anfang des 4. Jahrhunderts die archaisierende Richtung den müden Akademismus überholte, drängt sich heute der chaotische, geologische, archäologische Stoff in eine Nicht-Gestaltung auf Kosten der erfundenen Form.

Die geometrische Abstraktion hatte nichts anderes zustande gebracht, als die ganze Ästhetik der Renaissance ins Nichtfigürliche zu übertragen. Nunmehr ist der realistische bürgerliche Westen einer Kunst ausgesetzt, die sich vom griechisch-römischen Einfluss befreit hat und seit dem die Existenzmöglichkeiten des reinen Schaffens außerhalb handwerklicher Bindungen auf sich nimmt. Das bringt seine Konsequenzen mit sich, und man hat heute sämtliche Ausflüchte bereit, um die Herkunft der neuen Formen, die in der Nacht einer solchen Anarchie entstehen, falsch zu beurteilen.

Diese Malerei hat neue Techniken gefunden – die meisten Leinwände sind maßlos großformatig. Der Maler muss seiner Freiheit sicher sein und eine Fläche erfassen, die ihm keinerlei Grenzen setzt. Der Betrachter sieht sich ebenfalls in Rhythmen und Räume eingehüllt.

Dabei bleibt alles, was der Westen bis heute zu den Problemen des Raumes, der Zeit oder der Bewegung gesagt und gedacht hat, zur Wirklichkeit, zur Form oder zum Nichts, zur Emotion, Schöpfung oder Betrachtung in ihren Beziehungen zur Kunst, bedingt und fragwürdig, weil man auf Lösungen aus war, mit dem verdrängten Wunsch, Antworten zu erhalten, die in den Fragen schon eingeschlossen waren. Hier ist nicht der Ort, daran zu erinnern, dass an die Stelle der traditionellen Ontologie eine Axiologie (Werttheorie) getreten ist, dass, falls es einen Bereich gibt, in dem sich diese Substitution einleuchtender als anderswo bestätigt, dies die Kunst ist, und dass, falls es eine Zeit gibt, in der ein solcher Nachweis kaum noch Sinn hat, denn er ist evident genug – es die unsrige ist.

Noch weniger weiß man, dass durch die sukzessiven Befreiungen, die eigentlich vorläufige Siege über gestrige Welten sind, der Künstler des Westens der Welt neue Bindungen vorschlägt. –

Niemals in der Geschichte war es uns wie heute möglich, aus gewissen Aspekten der gegenwärtigen Malerei ein äußerst seltsames Phänomen der Abdankung der Urteilsfähigkeit abzulesen, sowohl bei denen, die schaffen, als auch bei denen, die zu werten glauben.